Die Gemeinde Mittelberg und das Großdeutsche Reich
Am 10. Juni 2008 wurde im Walserhaus in Hirschegg die von Dr. Thomas Gayda und Stefan Heim konzipierte Ausstellung „Sonderfall Kleines Walsertal – Ein Tal im Umbruch – 1933 – 1938 – 1948“ eröffnet. Diese brisante Zeit stellte einige Weichen für den Tourismusort Kleinwalsertal.Die Gemeinde Mittelberg erlebte Ende der Zwanzigerjahre einen gewaltigen Aufschwung im Fremdenverkehr. Laut den Aufzeichnungen der Verkehrsämter waren es im Jahre 1923/24 insgesamt 3.211 Personen mit 29.200 Nächtigungen, 1929/30 aber bereits 9.935 Gäste mit 135.675 Übernachtungen.
Die Zunahme des Fremdenverkehrs im Jahre 1930/31 kam hauptsächlich durch die deutsche Auslandsreisesperre. Diese deutsche Notverordnung fand aber auf das Kleinwalsertal, als deutsches Zollanschlussgebiet, keine Anwendung. Außerdem wurde das Tal im Dezember 1930 mit einer guten Straße an das deutsche Verkehrsnetz angebunden und Autobusse der Deutschen Reichspost transportierten Gäste bequem ins Tal. 1933 verfügte das Tal bereits über 27 Hotels und Gasthöfe, fünf Pensionen, sieben Kinderheime und sieben Hüttenbetriebe sowie eine Höhenklinik für Knochentuberkulose.
Durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Deutschen Reich kam es 1933 zu ersten Grenzschwierigkeiten. Am 16. März 1933 bezog eine SA-Abteilung Posten vor der Walserschanz, welche die Passanten nach einem gültigen Reisepass mit Sichtvermerk kontrollierte. Diese Maßnahme gefährdete den Fremdenverkehr des Tales und es wurden sofort Verhandlungen mit den deutschen Behörden aufgenommen. Am 12. April 1933 wurde die Kontrolle vor der Walserschanz wieder aufgehoben und die deutsche Passgrenze an die Zollgrenze zurückverlegt, so dass das Gebiet der Gemeinde Mittelberg wieder als deutsches Reisegebiet freigegeben war. Am 1. Juni 1933 wurden die deutschen Ausreisesperrmaßnahmen gegenüber Österreich noch verschärft. Für die Ausreise von Deutschland nach Österreich wurde eine Visumgebühr von 1.000 Reichsmark verlangt und es zog neuerdings ein SA-Posten an die Walserschanz. Eine Abordnung der Gemeinde Mittelberg reklamierte sofort in München und Berlin, da diese Anordnung gegen den Zollanschlussvertrag stehe. Am 10. Juni wurde die Maßnahme für das Kleinwalsertal wieder aufgehoben. Um die Gefahr der „Tausendmarksperre“ dauerhaft abzuwenden, wurde von der österreichischen Bundesregierung den „Reichsdeutschen“ im Kleinwalsertal erlaubt, die Hakenkreuzflagge in Verbindung mit der schwarz-weiß-roten Flagge zu hissen. Mitten in der Weltwirtschaftskrise erlebte Mittelberg einen Aufschwung und dank der „Tausendmarksperre“ einen regelrechten Tourismusboom, von dem auch der deutsche Fiskus durch die Verbrauchssteuern profitierte.
Im Winterhalbjahr 1935/36 verzeichnete das Kleinwalsertal weit mehr als die Hälfte aller deutschen Gäste in Österreich, im Tourismusjahr 1936/37 knapp die Hälfte aller Gästenächtigungen in Vorarlberg. Der Tourismusboom lenkte nicht nur deutsches Kapital ins Tal, sondern auch deutsche Staatsbürger. Während im übrigen Vorarlberg durch die „Tausendmarksperre“ der Anteil an Reichsdeutschen drastisch zurückging, betrug der Anteil in der Gemeinde Mittelberg im Jahr 1933 bereits 21,7 Prozent der Talbevölkerung. 2,5 Millionen Reichsmark deutsches Kapital waren im Tal investiert und 45 Anwesen im Besitz von „Reichsdeutschen“. Als Reaktion auf die „Überfremdung“ entstand im Juni 1934 der „Walserbund“ der sich aus 400 Einheimischen zusammensetzte und die „der bedrohten Heimat und ihrem Volkstum unverbrüchliche Treue“ schworen. Außerdem wurde von 50 bis 60 Burschen und Mädchen die „Walser-Jungfront“ gegründet, die sich die „wohlbedachte energische Abwehr gegen alle Einflüsse heimatfremder Elemente“ auf ihre Fahnen schrieb. Als Gegenstück gab es die im Jahr 1933 gegründete, nationalsozialistisch orientierte „Gemeinschaft der Reichsdeutschen im Kleinen Walsertal“. Zwischen den Jahren 1933 und 1938 gab es einige Unruhen im Tal. Im Frühjahr 1934 gab es z.B. Sprengstoffanschläge auf die E-Werk-Trafostation beim Buchenbachtobel und auf einige Häuser in Riezlern und Hirschegg.
Der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich am 13. März 1938 hatte für das Kleinwalsertal besondere Folgen. Der Gemeindetag wurde aufgelöst und Bürgermeister Gedeon M. Fritz abgesetzt. Am 16. April 1938, sechs Tage nach der Abstimmung über den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, wurde vom kommissarischen Bürgermeister und der NSDAP-Ortsgruppenleitung an die Landeshauptmannschaft und die NSDAP-Gauleitung Vorarlberg der Antrag gestellt, das Kleinwalsertal im Zuge des Neuaufbaus Österreichs verwaltungsmäßig in den Bezirk Sonthofen im Regierungsbezirk Schwaben einzugliedern. Es ist zweifelhaft, ob die ehemals österreichischen Staatsbürger diesen Wunsch mehrheitlich teilten. Ein namhafter Teil der Bevölkerung blieb jedenfalls demonstrativ fern, als die NSDAP bereits am 12. Juli 1938 pompös die Eingliederung des Kleinwalsertals in den Gau Schwaben feierte.
Sieben Jahre lang stand das Kleine Walsertal unter der Führung von Bayern. Die Kriegsjahre erbrachten zwangsläufig einen fast völligen Stillstand des Fremdenverkehrs. Von direkten, materiellen Schäden blieb die Gemeinde Mittelberg, das Kleinwalsertal, verschont.
Das Kleinwalsertal wurde vor dem Anrücken der französisch-marokkanischen Truppen von der österreichischen Widerstandsbewegung, dem Heimatschutz, unter Kontrolle gebracht. Diese Männer unter der Leitung von Peter Meusburger waren bewaffnet. Waffen und Munition hatten sie vom Jägerbataillon aus Oberstdorf bekommen. Das Ziel des Heimatschutzes war, in den letzten Kriegstagen das Tal vor fanatischen Nationalsozialisten zu schützen und Kampfhandlungen der anrückenden alliierten Truppen zu verhindern. Das Tal sollte kampflos übergeben werden. Man rechnete mit einer amerikanischen Besatzung und stellte an der Walserschanz eine Tafel mit „Here is Austria!“ auf. Am 2. Mai 1945 rückte die französische Armee ein. Es gab kein Blutvergießen.
Auch die prominenten Internierten im Ifenhotel kamen wieder frei. Tausende von Ostflüchtlingen waren seit März 1945 ins Tal gekommen und über tausend Verwundete lagen in den Notlazaretten. Der Bevölkerungsstand war dadurch nahezu auf zehntausend Personen angewachsen. Die Lebensmittelversorgung drohte völlig zusammenzubrechen. Es war eine harte Zeit für alle Menschen im Tal.
Am 12. Mai 1945 erschien wieder die eigene Gemeindezeitung. Am 20. Mai 1945 fand zu Ehren des eingetroffenen General de Gaulle, dem späteren Staatspräsidenten von Frankreich, eine Parade statt. Mit einem Besuch der Vorarlberger Landesregierung und der französischen Militärregierung kehrte die Gemeinde Mittelberg am 20. September 1945 offiziell zum Land Vorarlberg zurück. Titel dieses Festes war: „Heimat kehrt zur Heimat wieder“. Am 15. Dezember 1948 verließ der letzte Soldat der französischen Besatzungsmacht das Kleinwalsertal. Es wurden alle seit dem Kriegsende beschlagnahmten Hotels und Privatwohnungen für den ersehnten Fremdenverkehr wieder freigegeben. Gleichzeitig traten auch Erleichterungen für den Grenzübertritt in die Gemeinde Mittelberg in Kraft, so dass zu Weihnachten der Besuch von deutschen Gästen erheblich angestiegen war.
von Stefan Heim