60 Jahre Lawinenkatastrophe im Großen Walsertal

Eine Naturkatastrophe verändert das Leben im alpinen Raum

Der 11. Jänner 1954 wird ein (ge-)denkwürdiges Datum in der langen Geschichte des Großen Walsertales bleiben. Neben dem unmittelbaren Leid, welches die Bevölkerung durch die Lawinenkatastrophe in den einzelnen Walserdörfern ertragen musste, beschäftigen die Bewohner des Großen Walsertales aber auch die langfristigen Folgen, welche selbst noch in der Gegenwart in der gesamten Region direkt oder indirekt spürbar sind.

Mit dem Begriff „Lawinenkatastrophe 1954“ wird vor allem die davon am stärksten betroffene Gemeinde Blons in Verbindung gebracht. Von den insgesamt 80 Lawinenopfern des gesamten Großen Walsertales waren 57 (70 Prozent) alleine in Blons zu beklagen.

Wie konnte es zu dieser Katastrophe kommen?

Ursachen waren die äußerst ungewöhnlichen klimatischen Bedingungen im Herbst 1953. Ein wochenlanges Hoch bescherte dem Tal eine überdurchschnittlich milde Schönwetterperiode. Noch kurz vor Weihnachten stand auf dem Lehrerpult der Volksschule Blons ein kleiner, frischgepflückter Blumenstrauß. Während die Natur bzw. der Boden noch gar nicht auf winterliche Bedingungen eingestellt war, kam es um den Jahreswechsel 1953/54 zu einem Wetterumschwung verbunden mit massivem Niederschlag. Der erste Schnee dieses Winters fiel zudem in Form von federleichtem Pulverschnee. Binnen weniger Stunden waren plötzlich Schneehöhen von über zwei Metern in den Ortsgebieten zu verzeichnen. Unter diesen denkbar schlechten Voraussetzungen herrschte innerhalb kürzester Zeit akute Gefahr durch „Staublawinen“. Auch wenn die damalige Situation durch eine Verkettung mehrerer ungewöhnlicher klimatischer Bedingungen zu erklären ist, so muss auch langfristiges menschliches Versagen als Teilaspekt der Katastrophe erwähnt werden. Der Zustand des Bannwaldes sowie die Lawinenverbauungen entsprachen zum Unglückszeitpunkt nicht den erforderlichen Kriterien. Für die bewohnten Regionen war daher gegen die herrschenden Extrembedingungen kein ausreichender Schutz geboten.

Eine kurze Chronologie der Ereignisse

Die ersten zwei Lawinentoten wurden schon am 10. Jänner aus Fontanella gemeldet. Dort riss eine Staublawine im Seewaldtobel die jungen Gebrüder Stark auf dem Weg zur Kirche in den Tod. Am 11. Jänner forderten die Türtsch- und Stelliberglawine in Fontanella weitere zehn Tote. Die Lochbrunnenlawine brachte in Sonntag zehn weiteren Personen den Tod. In St. Gerold kamen an diesem Tag drei Menschen ums Leben.

Und was geschah in Blons? Dazu ein detaillierter Bericht:

Am Sonntag, den 10. Jänner 1954, war tagsüber ein unglaublicher Schneezuwachs zu verzeichnen. Als erste Vorboten für ein größeres Unglück zerstörten die Nova-Lawine, die Guetschel-Lawine sowie die Herawies-Lawine im Laufe des Tages sieben Ställe sowie eine Seilbahnstation. Der Schneefall setzte sich über Nacht unvermindert fort, sodass es am Montag, den 11. Jänner 1954, zur bisher größten Naturkatastrophe mit Todesopfern im Großen Walsertal kam. In den frühen Morgenstunden ging die Mura-Lawine nieder. Am Vormittag war es die Valentschina Stutz-Lawine, die ein erstes Todesopfer forderte. Um 10.05 Uhr brachte die Falvkopf-Lawine insgesamt 42 Menschen den Tod. Ein weiteres Opfer forderte zeitgleich die Stutz-Lawine. Um die Mittagszeit zerstörte die Mühletobel-Lawine einen Stall. Die Lawine im Eschtobel um 17.00 Uhr riss eine Person mit, welche seither als vermisst gilt. Weitere zwölf Todesopfer sowie eine vermisste Person waren beim Abgang der Mont-Calv-Lawine zu beklagen, welche abends um 19.00 Uhr auch Teile des Ortszentrums zerstörte. Insgesamt wurden an diesem Tag alleine in Blons 96 Menschen verschüttet, von denen 57 das Unglück nicht überlebten. Die Beisetzung der Opfer erfolgte in einem provisorischen Massengrab beim Friedhof in Blons.

Das Leben muss weitergehen

lawine54-3Den Menschen blieb in jenen Wochen und Monaten kaum Zeit zur Verarbeitung der Erlebnisse. Die beklemmende Situation musste ganz einfach irgendwie ertragen werden, da allerorts überlebenswichtige Maßnahmen getroffen werden mussten. Unmittelbar nach der Katastrophe waren es daher die kollektive Trauer sowie die drängenden Aufbauarbeiten, aus welchen die geschockte Bevölkerung mehr oder weniger gezwungenermaßen Kraft zum Aufbau einer neuen Zukunft schöpfen musste. Unterstützt wurden die Überlebenden von zirka 1.500 Ersthelfern, welche sich aus der regionalen Umgebung, aber auch aus internationalen Hilfsdiensten (z.B. Helikoptereinsatz durch die US-Armee) rekrutierten. Da rund ein Drittel aller Häuser und Höfe zerstört worden war, musste ein schwieriger Wiederaufbau in Angriff genommen werden. In den Folgejahren brachte eine verbesserte Massivbauweise der Eigenheime eine neue Architektur in das Dorf, was sich bei der genaueren Analyse des heutigen Ortsbildes immer noch sehr gut erkennen lässt. Dass die Ereignisse aber auch viele Menschen zur Abwanderung bewogen, kann nachvollzogen werden.

Für die Gemeinde Blons bedeutete die Lawinenkatastrophe von 1954 einen Bevölkerungsverlust von insgesamt 28 Prozent beziehungsweise 103 Personen (57 Tote, 46 Abgewanderte). Auch 60 Jahre danach sind Teile der Bevölkerung des Tales immer noch mit dem Trauma der Lawinenkatastrophe von 1954 konfrontiert. Während materielle Verluste weitgehend wieder ersetzt werden konnten, ergab sich für viele Überlebende erst nach Jahrzehnten die Möglichkeit einer psychologischen Aufarbeitung des Erlebten mit professioneller Unterstützung.

Ein solches Ereignis darf nicht vergessen werden

Eine erste Publikation der Lawinenkatastrophe schrieb der Journalist Joseph Wechsberg 1959 in seinem Roman „Blons“. Dabei schilderte er ziemlich wahrheitsgetreu die Ereignisse, allerdings in Romanform. Das Buch erschien auch in englischer Sprache und ist längst vergriffen.

Eine zusammenfassende Darstellung über die Lawinenkatastrophe von 1954 sowie über die Rettungsmaßnahmen und den Wiederaufbau erfolgte im Jahre 1982 durch das von Eugen Dobler verfasste Buch „Leusorg im Großen Walsertal“. Das Buch erschien bereits in der 6. Auflage, Restbestände sind noch erhältlich.

Mittlerweile ergänzen vor allem ein großes Lawinendokumentationszentrum auf der Alpe Hüggen sowie eine multimediale Informationsstelle im Gemeindeamt Blons das öffentliche Bemühen, dieses Ereignis der Nachwelt in Erinnerung zu behalten. Die eindrücklichste Art der Bewusstseinsbildung rund um die Lawinenkatastrophe von 1954 sowie deren Auswirkungen bis in die Gegenwart ist jedoch der im Jahre 2004 angelegte Lawinenlehrpfad im Ortsgebiet von Blons. Der Rundweg, welcher auch als geführte Wanderung gebucht werden kann, führt vorbei an den Originalschauplätzen und zeigt direkt die aktuellen forst- und lawinentechnischen Maßnahmen, welche zum Schutz der Wohngebiete getroffen werden müssen. Prospektmaterial mit historischen Fotos und aktuellen Bildern der Gemeinde Blons ergänzen die Information.

Ebenfalls im Jahre 2004, also 50 Jahre nach der Katastrophe, wurde das neue Gemeindezentrum von Blons eröffnet. Das Holz für dieses Gebäude wurde großteils aus dem eigenen Schutzwald im Rahmen der Waldpflege gewonnen. Das Gemeindezentrum ist somit ein starkes Zeichen für die Bewältigung der Katastrophe und den Wiederaufbau und kann durchaus als Versuch eines symbolischen „Abschlusses“ eines jahrzehntelangen Prozesses für die Gemeinde Blons und für das Große Walsertal gesehen werden.

Der 10. und der 11. Jänner blieben bis zum heutigen Tag markante Gedenktage. Das Lawinen-Kreuz im Ortszentrum von Blons, ein Lawinen-Denkmal an der Kirchenmauer sowie die „Lawinenglocke“ im Turm der Pfarrkirche sind weitere sichtbare Mahnmale an die menschliche Tragödie von 1954.

Mit der cineastischen Verfilmung des Romans „Der Atem des Himmels“ von Reinhold Bilgeri im Jahre 2011 wurde die Lawinenkatastrophe von 1954 auch international in den Blickpunkt gerückt. Ob die künstlerische Vermischung der Tragödie mit einer erfundenen Liebesgeschichte jedoch als geglückt angesehen werden kann, darüber scheiden sich im Großen Walsertal die Meinungen. Dass das Thema für die Nachfahren aber immer noch von sehr hohem und überregionalem Interesse ist, zeigen die zahlreichen TV-Dokumentationen (z.B. „Menschen und Mächte“) und Interviews, welche in den letzten Jahren zusammengestellt und ausgestrahlt wurden. In Vorarlbergs größtem naturwissenschaftlichem Museum „inatura“ in Dornbirn ist der Lawinenkatastrophe von 1954 sogar eine eigene Filmpräsentation gewidmet.

Die unglaublichen Leistungen eines Walserdorfes

Blons präsentiert sich heute als sicheres und modernes Dorf mit sehr hoher Lebensqualität und intakter Infrastruktur. Noch vor wenigen Jahren war Blons sogar die Gemeinde mit Österreichs jüngster Bevölkerungsstruktur – ein deutliches Zeichen dafür, dass junge Familien eine Perspektive in diesem Walserdorf haben. Es wurden die richtigen Lehren aus dem Unglück gezogen und die Gefahren des alpinen Raumes werden nicht mehr verharmlost. Das Thema „Lawinenkatastrophe von 1954“ ist in den vergangenen 60 Jahren stets aufs Neue ins Bewusstsein der ganzen Talbevölkerung gerufen worden. Es muss aber auch in den zukünftigen Jahrzehnten vorrangige Aufgabe aller verantwortlichen Personen in Politik, Land- und Forstwirtschaft sowie der Lawinen- und Wildbachverbauung bleiben, die richtigen Entscheidungen für einen sicheren und lebenswerten Biosphärenpark Großwalsertal zu treffen – im Sinne einer optimistischen Zukunft für uns und unsere Nachfahren.

David Ganahl, St. Gerold

Dieser Artikel ist in Heft 94 der „Walserheimat“ zu finden.