Der Erste Weltkrieg im Kleinwalsertal
1914
Am 31. Juli 1914 langte um 21:00 Uhr vom Abteilungskommando das Telegramm von der allerhöchst angeordneten allgemeinen Mobilmachung ein. Wachtmeister Johann Stampfl und Vizewachtmeister Johann Steixner übergaben diese an Gemeindevorsteher Franz Josef Felder in Riezlern. Die Gemeindevertretung begann mit der Verlautbarung im Rayon (Zuständigkeitsbereich einer Sicherheitsbehörde).
Zu den Alpen wurden Boten entsandt, um die Betroffenen, für die ein Einrückungsbefehl vorlag, zu holen. Bis tief in die Nacht hinein wurde die Gendarmerie um Auskünfte hinsichtlich der Mobilisierungskundmachung gebeten. „Keine Frage wurde schuldig geblieben und jeder Zweifel wurde gelöst“, heißt es in der Chronik der Gendarmerie. Tadellos schnell und ohne Zwischenfall sei die Mobilmachung vonstatten gegangen.
An der Walserschanze wurde eine 20 Mann starke deutsche Grenzschutzwache aufgestellt und der Zollanschlussvertrag wurde außer Kraft gesetzt. Erst nach langwierigen Verhandlungen wurde dieser Vertrag wieder anerkannt. Die mobilisierten Walser durften aber nicht über die Grenze gehen, um zu ihren Einheiten einzurücken. 120 Männer aus dem Tal sammelten sich um 12:00 Uhr mittags am 2. August in Riezlern. Der Zug ging mit Begleitung durch die Musikkapelle über das Starzeljoch zur Bahnstation nach Bezau. Am Starzeljoch nahm die Musikkapelle Abschied von den Männern und marschierte wieder zurück ins Tal. Alle mobilisierten Männer waren zeitgerecht eingerückt, auch die, die sich zur Zeit im Ausland aufhielten. Laut Chronik „folgten alle dem Rufe mit Freuden und keine Verhaftung hatte zu erfolgen.“
Die vorgeschriebene Beistellung von Fuhrwerken und Pferden entfiel für die Gemeinde Mittelberg. Am 16. August wurde Landesstreifung im Rayon angeordnet. Titularwachtmeister Stampfl und Vizewachtmeister Steixner trugen in die Chronik ein, dass sie resultatlos verlief. Aber im Kleinwalsertal gab es plötzlich keinen Kaminkehrer mehr und die Gendarmerie machte es sich zur Aufgabe, einen neuen „sicherzustellen“. In den Wochen danach sind nur noch Eintragungen von neuen Musterungen und Einrückungen vorhanden.
Die von den Deutschen verhängte Grenzsperre lastete schwer auf den Talbewohnern. Alle Postsendungen mussten von Schoppernau aus mühsam über das Starzeljoch ins Tal befördert werden. Alle Fuhrwerke, die den Weg nach oder von Oberstdorf nahmen, wurden streng untersucht und die Walser mussten sich beim Verkehr ins Bayerische mit einem von der Gemeindevorstehung ausgestellten Grenzschein ausweisen, der den Grund des Grenzübertritts erklärte. Die Kontrollen wurden an der Walserschanz erst von deutschen Finanzwachorganen, später von Soldaten ausgeübt.
Ende Oktober mussten bei den Händlern im Kleinwalsertal die Mehlvorräte festgestellt werden. 50 Meterzentner Mehl wurden der Bezirkshauptmannschaft gemeldet. Anfang November mussten Straßenarbeiter für die Armee in Galizien „sichergestellt“ werden. Einer hatte sich sogar freiwillig gemeldet, acht wurden „namhaft“ gemacht.
Die wirtschaftlichen Folgeerscheinungen des Krieges warfen ihre Schatten auch in das Kleinwalsertal. Infolge der Absperrung des Tales von Deutschland sanken die erzielbaren Verkaufspreise für Lebendvieh, Milch und Milchprodukte mangels eines entsprechenden Absatzgebietes. Für alle Güter, die von außerhalb eingeführt wurden (Mehl, Teigwaren, Zucker, Kaffee), mussten deutlich höhere Preise bezahlt werden. In kurzen Abständen wurden viele Kriegsverordnungen erlassen, die mitunter nicht gerade wohldurchdacht erschienen und speziell die Verhältnisse des Kleinwalsertals nicht berücksichtigten.
Ein recht trübes Kapitel bildete die im Winter 1914/15 eingetretene Not an Beleuchtungsmaterial. Vom Verlust der galizischen Petroleumquellen waren die Kleinwalsertaler hart betroffen. Auch Kerzen waren nicht mehr erhältlich. So wurde notgedrungen die „Lichtpfanne“ wieder entdeckt und man fühlte sich um Jahrhunderte zurückversetzt. 162 Mann waren im ersten Kriegsjahr eingerückt, wovon zum Jahresende 1914 bereits zwölf nicht mehr lebten.
1915
Das Jahr 1915 wurde durch ein freudiges Ereignis eingeleitet: Die Flugpost brachte aus dem belagerten Przemysl in Galizien die herzlichsten Neujahrsgrüße der eingeschlossenen Walser an die Gemeinde. Einige Monate ist nur noch von Musterungen und neuerlichen Einrückungen in der Chronik zu lesen. Zwölf Landsturmmusterungspflichtige mussten am 26. Mai 1915 wegen Nichterscheinen bei der Musterung „ausgeforscht“ werden. Auch Vizewachtmeister Johann Steixner wurde als Feldgendarm einberufen. Anfang Juli 1915 leistete die Gendarmerie der Gemeindevorstehung Assistenz bei der Mehlenteignung. Sie hatte auch die Aufgabe, einen Hufschmied für den Heeresdienst namhaft zu machen.
Mit dem fortgesetzten empfindlichen Abgang der männlichen Arbeitskräfte durch die Einberufungen wurde die Arbeitslast der Zurückgebliebenen immer größer. Frauen und Mädchen leisteten oft die Männerarbeit und selbst schwere Arbeiten auf dem Feld und im Wald mussten die Frauen übernehmen. Ab und zu halfen für kurze Zeit Ernteurlauber und vom Land gestellte militärische Hilfskräfte. Manchen Sennen und Hirten auf den Alpen blieb der Frontdienst erspart, damit sie die Alpen weiter bewirtschaften konnten.
Die wirtschaftlichen Folgen machten sich im zweiten Kriegsjahr deutlich Walser Soldaten: unbekannt, Albert Heim, Eduard Riezler, unbekannt, Hermann Riezler (v. li.). Foto: Archiv Friedrich Mathies 518 Walserheimat 97/2015 stärker bemerkbar. Eine ganze Reihe von Beschlagnahmungen und Enteignungen wurden angeordnet und für jeden Kopf wurde nur eine geringe Verbrauchsmenge vorgesehen. Kommunalverbände übernahmen die gerechte Verteilung der Lebensmittel und „sollten“ Preistreiberei und Wucherei verhindern. Wurde das Brot zuerst aus Weißmehl, Gerste und Maismehl hergestellt, mussten später sogar 40 Prozent Kartoffelmehl beigemengt werden. Das Brot bekam ein feldgraues Aussehen. Das erforderliche Mehl wurde von der Gemeinde aus Bregenz bezogen. Käse durfte nur noch mit einem Fettgehalt von 25 bis 30 Prozent erzeugt werden. Ein Teil des Alpkäses wurde gegen gute Bezahlung an die Heeresverwaltung nach Innsbruck verkauft.
Am 28. September 1915 wurden Metallgegenstände aus Kupfer, Messing, Nickel, Zinn usw. beschlagnahmt. Sogar der Stacheldraht musste an die italienische Front geliefert werden. Die Schuljugend des Tales sammelte unter Aufsicht der Lehrkräfte Brennnesseln und Brombeerblätter. Das starke Ansteigen aller Preise ging vielfach auf das Konto von Wucherern. Bei der fortgesetzten Entwertung des Geldes trachtete jeder danach, das verfügbare Papiergeld möglichst rasch in Waren umzusetzen.
1916
Im Sommer 1916 wurde der Mangel an Arbeitskräften im Tal immer sichtbarer. 34 Walser waren vom Militärdienst im Sommer befreit, um die Alpen zu bewirtschaften und 21 Soldaten halfen bei der Erntearbeit. Immer deutlicher weisen die Eintragungen nach, dass der Krieg härter wird und immer mehr Opfer verlangt. Im April 1916 trafen 25 russische Kriegsgefangene ein. Sie wurden zu landwirtschaftlichen Arbeiten eingeteilt, bei denen die Gendarmerie die Oberaufsicht führte. Im Juni mussten Brennholzmengen für die Militärverwaltung sichergestellt werden. Sogar Blitzableiter verlangte die Militärbauleitung. Spürbar wurde im Tal auch der Mangel an Handwerkern. Die Instandhaltung von Häusern und Dächern wurde immer mangelhafter. Mancher nahe gelegene Baum wurde kurzerhand gefällt und als Brennholz verbrannt. Die Bergmähder wurden während der ganzen Kriegszeit nicht mehr gemäht. Neben dem Nahrungsmangel maulten die Männer im Tal über den Mangel an Tabak und Zündhölzern und die Frauen vermissten Seife und Kleiderstoffe. Im Sommer mussten dann sämtliche Goldmünzen, Alteisen, Papier und Schafwolle abgeliefert werden.
Eine wichtige Eintragung wurde sorgfältig am 22. November 1916 notiert: der Todestag Seiner Majestät Kaiser Franz Joseph I., und einen Tag später der Regierungsantritt von Kaiser Karl I. Am 1. Dezember wurde die Postenmannschaft auf den neuen Kaiser vereidigt.
Einen traurigen Abschied gab es für die Walser, als in jeder Pfarrei mehrere Kirchenglocken abgenommen wurden, um daraus Kanonen zu gießen. Die Walser boten sogar Geld als Ersatz für die Kirchenglocken, aber es hat nichts genutzt. In Riezlern musste die große Glocke in zwei Teile zersprengt werden, um sie bei den Fenstern hinausbefördern zu können. In Mittelberg wurde nebst der großen auch die dritte und vierte Glocke schweren Herzens geopfert, um wenigstens die Zweitgrößte zu retten, jene Glocke, die im Jahr 1758 auf dem Mittelberger Kirchplatz gegossen wurde und daher sozusagen ein Walserkind war. Im Ganzen fielen der ersten Ablieferung neun Glocken mit einem Gesamtgewicht von 9.590 Kilogramm zum Opfer. Vergütet wurde das Kilo mit vier Kronen. Die Walser weigerten sich, bei der Abnahme mitzuhelfen. Bald wurden auch Vieh und Heu beschlagnahmt.
Wiederholte Volkszählungen dienten als Grundlage der Versorgung und gleichmäßigen Verteilung von Lebensmitteln. Die Versorgung mit Mehl erfolgte bis Ende Februar 1916 von Österreich aus, was auf Dauer aber nicht durchführbar war. Nach längeren Verhandlungen wurde dann die Mehlversorgung von Bayern aus über den Kommunalverband Sonthofen abgewickelt. Zu versorgen waren zu dieser Zeit 1 199 Personen mit je 200 Gramm täglich.
Die in Österreich und einigen anderen Staaten eingeführte Sommerzeit vom 1. Mai bis 15. Oktober erfreute sich bei den Landwirten keiner Beliebtheit. Im Herbst wurden die ersten Kriegssteuern beziehungsweise Kriegszuschläge eingehoben. Nickel-, Kupfer- und Eisenmünzen wurden eingeschmolzen und der Bevölkerung ging das Kleingeld aus. Man behalf sich damit, dass man die restlichen Münzen selbst geviertelt und als Zahlungsmittel verwendet hat. Ende 1916 standen 331 Kleinwalsertaler teils an der Front, teils im Hinterland. 41 waren mittlerweile gefallen.
1917
Am Silvestertag des Jahres 1916 überwachte die Gendarmerie eine Schafwollsammlung. Der Transport nach Österreich wurde aber in Oberstdorf Anfang Jänner verhindert mit dem Hinweis, dass Mittelberg zum deutschen Zollgebiet gehöre. Die Wolle ging nach Deutschland. Gleich nach Weihnachten trat wieder ein Petroleummangel auf, viele Leute waren bereits ohne Beleuchtungsmaterial.
In Sachen Ernährung und wirtschaftliche Nöte war das Jahr 1917 wohl das Schlimmste aller Kriegsjahre. Die Walser litten Mangel an allen erdenklichen Bedarfsartikeln, an Schuhen, Kleidern, Brennstoffen, Rauchwaren und Seife. Vieles war ganz vom Markt verschwunden. Mehl, Brot, Fleisch, Eier und Kartoffeln wurden allmonatlich noch mehr gekürzt. Die Zahl der verschiedenen Bezugsarten und Bezugsscheine erreichte im Sommer ihren Höhepunkt Der Humor ging aber nicht ganz verloren. So machte ein bürgerliches Kochrezept die Runde: Man nehme die Fleischkarte, wälze sie in der Eierkarte und brate sie in der Butterkarte schön braun. Die Kartoffelkarte und Gemüsekarte wird gekocht und die Mehlkarte hinzugesetzt. Um schnell und intensiv zu kochen, lege man die Kohlenkarte und Spirituskarte darunter und zünde sie an. Als Nachtisch brühe man die Kaffeekarte auf und füge die Milchkarte hinzu. Feinschmecker lösen die Zuckerkarte darin noch auf. Nach dem Essen wäscht man sich mit der Seifenkarte und trocknet sich an dem Wäsche-Bezugsschein.
Die Jahrgänge 1872 bis 1899 wurden gemustert und nach und nach erhielten die Männer ihren Einrückungsbefehl. Wieder kamen im April zur Hilfe in der Landwirtschaft 39 Russen ins Tal. Auch 20 Soldaten trafen auf Kommandierung des Anbauoffiziers zu Anbauarbeiten in Mittelberg ein. Am 15. Juni wurde die Ablieferung von Butter und Käse an den Kommunalverband Sonthofen in das Journal eingetragen. Ein Drittel der Butter- und Käsevorräte verblieb den Walsern zur eigenen Versorgung. „In Riezlern gab es eine Stelle, wo Butter- und Käsekarten ausgegeben wurden“, notierte der Posten.
Im Juli 1917 mussten 120 Stück und im September wiederum 115 Stück Schlachtvieh nach Bezau abgeliefert werden. Im gleichen Monat begann eine Heufassungsmannschaft mit der Requirierung von 440 m3 Heu, die nach Feldkirch gingen, und im April 1918 wurden 200 Zentner Heu nach München abtransportiert. Das Schlimmste aber war am 27. September 1917 die Abnahme der letzten Kirchenglocke im Tal, die auch dem Krieg geopfert werden musste. Mit Ende des Jahres hatte sich die Zahl der gefallenen Kleinwalsertaler auf 45 erhöht.
1918
Die Länge der Kriegsdauer und die dauerhaften Einschränkungen zermürbten die Bevölkerung immer mehr. Nach dem Eingreifen Amerikas in das Kriegsgeschehen zeichnete sich ein baldiges Ende ab. Bei all den Sorgen und dem Kummer ertranken auch noch zwei Kinder von acht und zehn Jahren von einer Familie Riezler im August 1918 bei den „Gletschermühlen“ im Schwarzwasserbach.
Der 3. November 1918 enthält eine geschichtlich wichtige Eintragung: „Waffenstillstand mit Italien, Zusammenbruch der Südwestfront, zügelloses Zurückfluten der Armeen, wobei geraubt und geplündert worden ist.“ Der Krieg ist vorbei! Von nun an sind in der Chronik der Gendarmerie der Gemeinde Mittelberg wieder alltägliche Einträge zu lesen.
Heimkehrerfest in Riezlern
Die Soldaten des Ersten Weltkrieges wurden bei ihrer Rückkehr in Ehren empfangen. 230 heimgekehrte Soldaten sammelten sich am 19. April 1920 und feierten mit der Bevölkerung ein Fest, wobei sie derer gedachten, die nicht mehr zurückkommen konnten und ihr Leben hatten lassen müssen. In der Früh hatten sich die Riezler Heimkehrer mit ihrer Musik vor dem Haus des Gemeinderates Rudolf Fritz im Zwerwald versammelt, um den Heimkehrerzug von Hirschegg und Mittelberg begrüßen zu können. Vor dem Gasthof Engel in Riezlern fand die Begrüßung durch den Gemeindevorsteher statt, bevor es zur Messe in der Pfarrkirche Riezlern ging. Am Abend gab es noch einen Fackelzug mit Feuerwerk und Musik.
Jodok Müller, Riezlern
Quellen:
- Gendarmerie-Chronik Gemeinde Mittelberg. Archiv Walsermuseum Riezlern.
- KÖBERLE Alfons: Walser Helden. 1914-1918. Ein Hausbuch aus eiserner Zeit. Selbstverlag. S. 343 – 367.
- SCHWENDIGER Irmin: „Ein Blick in die 100jährige Chronik der Gendarmerie des Kleinwalsertales“. Veröffentlicht in mehreren Ausgaben der Heimatzeitung „Der Walser“ 1979, Nr. 40 ff.