von Walter Leitner
Die Entstehung der ältesten Verbindungswege und Transitrouten in den Alpen steht in engem Zusammenhang mit Tausch und Handel von Feuerstein, jenem Rohstoff, der für die steinzeitliche Jäger- und Sammlergesellschaft ein unverzichtbares Gut für die Herstellung von Waffen und Werkzeug darstellte. Härte und gute Spaltbarkeit bilden die idealen Eigenschaften dieser kieselsäurehältigen Gesteine, die in vielen Varietäten in den Kalkformationen der Erde vorkommen. In den Alpen waren es natürliche Aufschlüsse wie Bergstürze, Verwitterungshalden oder Bachbettschotter, in denen zunächst die oberflächliche Aufsammlung dieses Materials begann. Letztlich führten diese Aufschlüsse auch zu den ursprünglichen Lagerstätten, wo die beste Qualität des Gesteins zu erwarten war. Die Güte des Materials war ein ausschlaggebender Faktor für den Tauschhandel. Das ersieht man aus den weit reichenden Verteilerstrecken im und über den Alpenraum.
Längst nicht alle Feuersteinlagen waren auch abbauwürdig. Weniger qualitätvolles Material wurde nur im Bedarfsfall verwendet und hatte für den überregionalen Vertrieb keine Bedeutung. Ein wichtiger Stellenwert kam auch der Quantität des Abbauproduktes zu, denn zunächst galt es den Eigenbedarf zu decken, bevor man exportierte.
Klare Spuren von prähistorischen Feuersteinbergwerken trifft man in Europa erst ab dem 5. Jahrtausend v. Chr. an (Jungsteinzeit). Tausende von aufgelassenen Schacht- und Grubenbauten, in denen manchmal noch die Reste von Abbauwerkzeugen in Form von Steinhämmern und Geweihhacken zu finden sind, zeugen davon. Derartige Befunde sind im inneren Alpenraum noch nicht deutlich zum Vorschein gekommen, obwohl es an Regionen mit Feuersteinvorkommen nicht mangelt. Haben sich die inneralpinen Gruppen mit der Aufsammlung von anstehendem Oberflächenmaterial begnügt und bezogen die bessere Ware ausschließlich von den zirkumalpinen Abbaustellen?
Neue Untersuchungen zu diesem Thema führen uns nach Vorarlberg in das Kleine Walsertal. Dort führt das Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Innsbruck seit 1999 archäologische Ausgrabungen durch, die den ältesten Nachweis des menschlichen Aufenthalts in diesem Tal erbrachten. Es waren Jägergruppen, die während der nacheiszeitlichen Sommermonate die wildreichen Hochlagen aufsuchten um Steinbock, Gämse, Rothirsch, Reh und Bär zu jagen.
Ihre Spuren hinterließen sie in ihren Jagdstationen, die als Basisstation für ihre Streifzüge dienten. Große Felssturzblöcke und überhängende Felswände gehörten zu den bevorzugten Aufenthaltsstellen. Im Schutze dieser natürlichen Formationen errichtete man Feuerstellen und Windschutzkonstruktionen. Reste von Speiseabfällen und vor allem große Konzentrationen von Feuersteinabschlägen weisen untrüglich darauf hin, dass hier Mahlzeiten zubereitet und Steingeräte zugeschlagen wurden. Von diesen Lagern aus brach man zur Jagd auf. Das bewuchsfreie Gelände oberhalb der Baumgrenze war für die Beobachtung des Wildwechsels von Vorteil. Aus zahlreichen archäologischen Funden von Feuersteinabschlägen auf vielen Pässen und Übergängen Vorarlbergs erschließen sich uns die Routen der steinzeitlichen Jäger.
Neben Proviant sowie Bogen und Pfeilen, führten sie auch steinernes Rohmaterial in ihrem Reisegepäck mit, denn ihre Werkzeuge und vor allem die Bewehrung der Pfeilschäfte erlitten häufig Schaden oder gingen verloren und mussten laufend ersetzt werden. Um dem Umstand der unerwarteten Rohstoffknappheit vorzubeugen, legte man gelegentlich auch kleine Feuersteindepots entlang dieser Strecken an. Daraus lässt sich schon eine gewisse Frequenz der Begehung erahnen. Im Zuge solcher Wanderungen kam es sicherlich zu Kontakten mit Jägergruppen aus den benachbarten und auch weiter entfernten Kulturregionen. Mögen die Begegnungen auch nicht immer friedlicher Art gewesen sein, auf dem Sektor des Gütertausches ergaben sich sicher wohlwollende Tauschbeziehungen. Dabei spielte der Feuerstein eine große Rolle – und mit ihm das Kleine Walsertal.
Es hat sich nämlich gezeigt, dass in den hinteren Seitentälern des Kleinen Walsertales wie im Wildental, dem Bärgunttal und vor allem im Gemstel bedeutende Feuersteinbänke durchziehen. Es handelt sich dabei um Radiolarit, der in rötlichen, grünlichen und grauschwarzen Farbnuancen in großen Mengen vorkommt. Geologische Untersuchungsergebnisse stufen die Qualität des Materials als gut bis sehr gut ein, wobei die grünen Varietäten die homogenste Struktur zeigen.
Im Zuge der Ausgrabungsarbeiten eines prähistorischen Jägerlagers unter einem Felsüberhang auf der Alpe Schneiderküren (1550 m) und einer Talstation am Ufer des Schwarzwasserbaches in der Flur Egg bei Riezlern (1050 m) in den Jahren 1999 bis 2004 wurde deutlich, dass praktisch das gesamte steinerne Geräteinventar dieser Fundstellen aus den erwähnten Radiolariten besteht. Materielle Qualitätsunterschiede innerhalb der Steinwerkzeuge weisen darauf hin, dass der Rohstoff nicht ausschließlich von den Primärlagern stammt, sondern auch aus dem Schotterbett der Breitach entnommen wurde, wo er auf dem natürlichen Transportweg hingelangte.
So gesehen bildeten die Breitach und ihre Quellwasserläufe die eigentlichen Wegweiser zu den natürlichen Aufschlüssen dieser Gesteine. In diesem Zusammenhang erweist sich primär das Gemstel als absolutes Zentrum für Radiolaritgewinnung. Im Bereich der „Bernhards Gemstelalpe“ (ÖK 50.000, Nr. 113) häufen sich die Anzeichen. In schluchtartigen Einschnitten ist der Verlauf der Feuersteinbänke deutlich zu sehen und über die steilen Talflanken gehen große Halden an verwittertem Radiolarit bis hin zur Talsohle ab. Treffenderweise werden hier die Wiesenhänge oberhalb der Gemstelhütte schon seit langer Zeit als Feuersteinmähder bezeichnet.
Diesen Indizien Rechnung tragend galten die montanarchäologischen Untersuchungen diesem Steilhang. In 1550 m Höhe treten die Radiolaritbänke an mehreren Stellen an die Oberfläche. Am Fuß dieser Ausbisse sind jeweils kleine Terrassierungen zu beobachten, die den Verdacht aufkommen lassen, man hätte sich hier kleine Arbeitspodeste geschaffen um den Feuerstein abzubauen. Erste Abgrabungen untermauerten diese Überlegung. Die Radiolaritschichten unmittelbar unter dem Waldboden zeigten besonders homogene Strukturen und beste Qualität. An mehreren Stellen waren Aussplitterungen zu registrieren, die auf einen Abbau mit groben Steinhämmern schließen lassen. Weiters zeigen im Kontext gefundene Abschlagstücke und Präparationstrümmer, dass das Feuersteinmaterial zunächst vor Ort auf seine Güte getestet wurde, bevor die besten Stücke sodann denn Weg ins Tal zur Weiterverarbeitung oder als Handelsgut fanden.
Für die Ermittlung der Datierung des Abbaus kommen folgende Kriterien zur Anwendung: Gegen eine neuere bzw. historische Zeit spricht grundsätzlich das Fehlen jeglicher Aufzeichnungen von industrieller Gewinnung und Verwendung dieses Materials in den amtlichen Chroniken des Tales. Auch die wenigen modernen Gelegenheitsschleifer von Schmucksteinen fallen nicht ins Gewicht, da sie nach eigener Aussage ganz andere Plätze aufsuchten und andere Materialien verarbeiteten („Walser Jaspis“). Zudem ist an den abgeschlagenen Stücken zu erkennen, dass diese nicht mit einem herkömmlichen Eisenhammer bearbeitet wurden.
Klarere Indizien sprechen vielmehr für einen Abbau in prähistorischer Zeit, in der dieses Gestein, als der meist verwendete Rohstoff für die Herstellung von Werkzeugen, von großer Bedeutung war. Ausgehend von den bis dato bekannten Steingeräten aus den erwähnten Jagdlagern im Kleinen Walsertal, die nach der Radiocarbon-Methode (C14) in das 7. und 6. Jahrtausend v. Chr. datieren, bilden somit die Hänge der Feuersteinmähder das höchst gelegene und vermutlich älteste Abbaugebiet von Feuerstein in Europa. Aufgrund der oberflächlich verlaufenden Schichtungen war es wahrscheinlich nicht notwendig, tiefere Stollen oder Schächte in den Hang zu treiben. Man schlug oder sprengte die besten Brocken heraus, zerkleinerte sie an Ort und Stelle und präparierte Halbfabrikatstücke zur Mitnahme auf den ausgedehnten Streifzügen.
So kam das Material in den regionalen Umlauf und es dürfte sich bald herumgesprochen haben, dass im Gemstel große Mengen an gütevollem Feuerstein zu holen sind. Möglicherweise war es nicht immer nur gelegentliche Rohstoffbeschaffung, die hier sozusagen „en passant“ erfolgte. Der organisierte bergmännische Abbau von speziellen Arbeitsgruppen ist durchaus in Betracht zu ziehen und die Region Hinteres Gemstel wurde damit zu einem Versorgungszentrum von Radiolarit für den Vorarlberger Raum, das Alpenrheintal und das südliche Bodenseegebiet, wie erste Untersuchungen von Vergleichsmaterial z.B. aus Koblach-Rheinbalme, Koblach-Krinne und auch von Arbon-Bleiche verdeutlichen.
Das Gemstel birgt nicht die einzigen Radiolaritvorkommen in Vorarlberg. Nach ersten Prospektionen im Großwalsertal und in der Hochtannbergregion zu urteilen, bilden sie jedoch im Vergleich zunächst die ergiebigsten und qualitätvollsten Aufschlüsse.
Der vollständige Artikel ist in Heft 81 der „Walserheimat“ zu finden.