OFFENE DEUTUNG
Gelegentlich lösen Flurnamen Diskussionen über ihre Herkunft und ihre Wortbedeutung aus. So geschieht dies auch im Kleinen Walsertal, wo die Flurnamen Letze und Litze vorkommen. Es scheint nicht endgültig geklärt, welche Bedeutung diese Flurennamen haben. Universitätsprofessor Anton Amann, gebürtig aus Mittelberg, möchte die Leser an der Diskussion beteiligen und hat der Walserheimat seine Ausführungen überlassen.
TEIL II
ZU DEN LETZEN
1. Etymologie
Was ist eine Letze?
Das Wort Letze ist seit dem 13. Jhd. nachweisbar.1 Die etymologischen Verhältnisse des Wortes sind nicht völlig geklärt. Letze entspricht laut Jacob und Wilhelm Grimm (Grimm’sches Wörterbuch) den französischen „lices”, der italienischen „liccia”, „lizza” und dem englischen „list” (heute auch Erdwall). Das deutsche Wort Letze stammt jedenfalls aus diesen Wurzeln, weil die romanischen Formen aus lautlichen Gründen sich nicht aus Letze herausbilden konnten, sondern eben umgekehrt. Aus Gründen der Verbreitung lässt sich die romanische Herkunft ebenfalls auch deuten, da die entsprechenden Wörter laut Grimm durch alle romanischen Dialekte gehen, Letze im Deutschen aber nur im Süden (alemannisch und bayrisch) vorkommt und hier erst spät auftaucht.2 Mit einiger Berechtigung kann angenommen werden, dass die Walser das Wort Letze auf ihren langen Wanderungen, die sie in den Mittelberg führten, aus dem Romanischen mitgebracht haben.
Otto Merkt schrieb 1950 in „Das schöne Allgäu”3 über „Eine Letze im Kleinen Walsertal” und 1951 über „Letzen im Allgäu”4. Er geht eingrenzend davon aus, dass die Heimat der Letze die Schweiz sei, „dort wohl auch ihre größte Verbreitung, begünstigt durch die Natur, das Alpenland”5 hätte. Die etymologische Herleitung wählt er allerdings über die Wortsippe von Letze, Litze6, Latz, in der er das zentrale Moment der Begrenzung und Abgrenzung findet und über die Bedeutungsnähe von Letze und verletzen im Gedanken an einen Ort, wo man „angefasst und eingefasst” wird. Damit ist eine Verteidigungsanlage gemeint. Mit Bezug auf Erwin Pöschl scheint er die Grimm’sche etymologische Ableitung aus dem Romanischen abzulehnen, weil jener meint, dass „die romanischen Sprachen selbst solche Anlagen nicht mit einem zu lices gehörigen Wort bezeichnen, sondern eine derartige Sperre ‚Serra‘ nennen oder nach dem lateinischen ‚clusum‘.”7
Im Mittelhochdeutschen Wörterbuch von Lexer findet sich: „letzen: hemmen, aufhalten, hindern, verhindern.” und bei Schützeichel im Althochdeutschen Wörterbuch: „lez(z)en: hemmen, aufhalten, verlangsamen, beunruhigen.” Das im Grimm’schen Wörterbuch gebrauchte Argument der lautlichen Herleitung ist damit allerdings nicht widerlegt, sodass hier die Vermutung der romanischen Abkunft beibehalten wird.
In ihrer früheren Verwendung hieß die Letze an der alten Walserstraße zwischen dem Zwerwald und dem Leidtobel „Lezin” und „Leze” bzw. „Letzin”.8 Das Wort ist ein Flurname bzw. die Bezeichnung einer Häusergruppe. Der Ort liegt direkt vor der Leidtobelbrücke. Dort reicht ein steiler Felsabhang bis unmittelbar an die alte Straße herunter und unterhalb der Straße fällt ein steiler Hang bis zur Breitach ab. Der Durchgang ist eng, abseits der Straße höchstens für geübte Geländegeher, keinesfalls aber für irgendwelche Arten von Transport geeignet. Allerdings sind heute keine Spuren einer Letze mehr zu sehen. Merkt gibt an: „Der einzige Beweis für eine echte Letze ist ja der Flurname in Verbindung mit der Situation an Ort und Stelle.”
Damit öffnet sich sachlich und historisch die Möglichkeit, der Bedeutung von Letze näher zu kommen. Das im 13. Jhd. auftauchende Wort hat vor allem eine wehrtechnische Bedeutung. Es bezeichnet einen Grenzverhau, eine „Landwehr”, eine Verteidigungslinie, meist in Form eines Verhaus, mit oder ohne Graben davor, mitunter auch mit Wachthäusern für eine kleine Besatzung, „namentlich da, wo straszen herzuführen.”9 Wann sollte es im Breitachtal notwendig geworden sein, eine Letze zur Verteidigung zu errichten? Weshalb soll gerade dieser Ort dafür in Frage gekommen sein? Welche geschichtlichen Ereignisse bieten sich für eine Deutung an?
2. Bedeutung und Geschichte
In der früheren Ausdrucksweise sind Letzen Straßensperren, errichtet unter bestimmten militärischen Gesichtspunkten: Verteidigung eines Übergangs oder Durchgangs, Einsehbarkeit des weiteren Umfeldes, um den Feind früh zu entdecken, Rückzugsmöglichkeit für Menschen und Tiere hinter die Verteidigungslinie, falls dies ratsam erscheint. Merkt zieht für die historische Bedeutung der Letzen im Allgäu10 die Geschehnisse des so genannten „Appenzeller Krieges” zwischen 1400 und 1410 heran. Die Appenzeller hatten zuerst den Abt von St. Gallen erfolgreich bekämpft, versuchten dann die Allgäuer Bauern zum Mittun im Krieg gegen die ungeliebten Herren zu bewegen, drangen bis Füssen vor und belagerten sogar Immenstadt.11 Hier wäre ein erster Anhaltspunkt zu markieren, zumal neben der sachlichen Überlegung ja auch eine Rolle spielen mag, dass Letzin als Flurname im Breitachtal urkundlich das erste Mal im 15. Jhd. auftaucht. Merkt bezeichnet den Ort als einen aus zwei Häusern bestehenden „Weiler”.12 Nun sind urkundliche Erwähnungen einer Letze noch kein Nachweis dafür, wann dort tatsächlich etwas errichtet wurde, sie bedeuten Vorhandensein. Inwiefern sie allerdings, zusammen mit anderen Befunden, gute Anhaltspunkte abgeben können, wird sich im Folgenden zeigen.
Welche wären nun die technischen Argumente, die angeführt werden können? Wenn in dieser historischen Zeit dem Breitachtal eine Bedrohung von außen, in diesem Fall also aus dem Nordosten, ins Haus stand, gab es zwei Stellen, die sich militärisch als besonders günstig zu einer Abwehr von Eindringlingen eigneten: zum einen die Walserschanze für den Ort Riezlern, wobei die Funktion dieser Schanze ausdrücklich nur im „Dreißigjährigen Krieg” erwiesen wurde, und eben die Letze für den inneren Teil des Tales.
Der zeitliche Abstand bei der Nennung von Walserschanze und Letze findet in Merkts Nachweis einen Halt, dass manche Letzen später Schanzen genannt wurden,13 zumal auch in der Schwedenzeit im Allgäu schon nicht mehr von Letzen, sondern von Schanzen gesprochen wurde.14 Die Letze bei Riezlern, die tatsächlich in der Ortschaft Hirschegg, und zwar im Leidtobel liegt, kommt als Ort einer Befestigung zeitlich erheblich vor dem Dreißigjährigen Krieg zu liegen.
Nun werden vermutlich keine Wehren und Straßensperren dort angelegt, wo der regelmäßige Verkehr von Menschen und Tieren nicht vorhanden ist. Es gilt daher, einen Hinweis zu finden, dass der Weg bzw. die Straße von Riezlern durch den Zwerwald über die Letze ins Leidtobel, hinauf auf den Dürenboden und weiter in Richtung Mittelberg – eben die „alte” Walserstraße – tatsächlich auch von Bedeutung war. Dies ist das zentrale Argument. Denn, weil eine Letze grundsätzlich eine Straßensperre ist, liegt jede an einer Straße – auch hier. Im „Spruch des Gerichts Mittelberg über die Rodeinteilung” von 1690 findet sich ein Passus, der hier von Nutzen sein könnte: „fürohin zue allen Zeiten, Sommer und Winter Zeit, wanns die noth Erfordert, am andern helffen machen, und erhalten nach lauth des Haubtbrieffs, daß man in alweg den Weg und die Prug in alweg nach notturfft zue gebrauchen hab mit gehen Sommen und fahren doch mit Vorbehalt, wan das ain od mehr Stuckh gueth an Steg od. Weg auch an der Prug vor disßen schuldig geweßen währen zue machen, so sollen dieselben Solches fürohin zue allen Zeiten machen und erhalten wans die Notturfft erfordert.”15 Grob gesprochen war eine Rodeinteilung eine Absprache und zugleich Anweisung, welche Hausbesitzer, anrainend an eine von mehreren benutzte Straße, zu deren Erhaltung verpflichtet waren. In diesem Spruch des Gerichts Mittelberg ist ausdrücklich festgehalten, dass die Rodeinteilung für die „Landtstraß” für jeden Ort – hinein über den Zwerbach bis in die „Indre Pfarr” – zu Recht gilt.
Fraglos ist hier mit der „Prug” von der Leidtobelbrücke nach der Letze taleinwärts die Rede, fraglos ist diese gerichtliche Verlautbarung des Mathisß Haim, „Stabhalter des Gerichts Mittelberg in die Herschafft Bregenz gehörig”, aus guten Gründen gemacht worden. Sie sollte durch rechtsverbindlichen Auftrag an die Anrainer sicher stellen, dass eine von vielen und häufig benutzte Landstraße zum Gehen, Säumen und Fahren „fürohin und zue allen Zeiten” in angemessenem Zustande gehalten wurde. Obwohl die Urkunde aus 1690 datiert, spricht rein gar nichts dagegen, dass diese Straße „immer schon” die ihr in der Urkunde zugeschriebene Bedeutung hatte, denn – eine andere Straße gab es nicht durch diesen Teil des Breitachtals.
Mit den bisherigen Überlegungen ist nun historisch nicht zu belegen, wann zum ersten Mal tatsächlich eine „Landwehr” oder eine Straßensperre in der Letze aufgebaut wurde. Es ist nicht auszumachen, ob tatsächlich Verteidigungshandlungen stattgefunden hatten. Es ist eher zweifelhaft, ob eine über längere Zeit dauernde Befestigung überhaupt existierte. Was als sicher gelten kann, ist die Bestimmung aus etymologischen und wehrtechnischen Argumenten. Die Überlegungen könnten damit abgebrochen werden, gäbe es nicht das, was man den stillen Druck der Geschichte nennen könnte. Darunter soll die Tatsache verstanden werden, dass in einer Bevölkerung historisch, politisch und sozial als bedeutsam erfahrene Begebenheiten sich sprachlich niederschlagen, sich in der Sprache verankern und in Bezeichnungen und Ausdrücken aufgehoben bleiben, auch wenn ihr sachlicher Gehalt längst entschwunden ist. Deshalb soll nun auch diesem Gesichtspunkt noch nachgegangen werden.
3. Spätes Erbe?
In der „Flurnamenkarte Gemeinde Mittelberg” von Vogt16 finden sich im Umkreis der Letze die zwei Flurnamen Salpeterhütte und Schmittele. Es legen sich Assoziationen nahe, die auf die „Landwehr” einen Bezug herstellen wollen. Nun gilt es, vorsichtig zu sein. Beispielsweise ist Arthur Schuster, einem Kenner der Gegend um die Letze, die Salpeterhütte nicht bekannt.17 Hier gälte es, weiter zu forschen, zumindest auf dem Pfad, dass Salpeter, bekanntlich ein Bestandteil des Schwarzpulvers, in irgend einer Weise mit dem Bedeutungskomplex „Landwehr” in Verbindung gebracht werden könnte. Schmittele hat einen näheren Bezug insofern, als hier wohl die – auch nicht vollends geklärte – Tatsache im Hintergrund steht, dass das Haus Nr. 14 (nach der alten Häuserzählung), unmittelbar nach der Leidtobelbrücke in Richtung Mittelberg gelegen, und damit unterhalb der Letze, ehemals eine Schmiede war oder gewesen sein soll.18 Das kann, falls es zutrifft, von Bedeutung für den Fuhrverkehr gewesen sein, vielleicht aber auch für die Vorstellung, im Falle notwendiger Verteidigung an Ort und Stelle benötigtes Gerät herstellen zu können. Zumindest ein Gedanke sollte noch darauf verwendet werden: Ganz in der Nähe mündet der Hirschegger Mühlebach in die Breitach. Er bildet nordwestlich ein Hindernis für jemanden, der die Letze umgehen will.
J. Fink und H. v. Klenze berichten im XVI. Kapitel ihres Buches über das Vereinswesen im Kleinen Walsertal und gleich am Anfang des Abschnitts über das „Schützenwesen”. 1826 wurde auf „höheren Befehl” ein „Schießstand” im Leidtobel errichtet.19 Im Jahr 1887 wurde der „neue” Schießstand gebaut, exakt vor der Engstelle in der Letze (Richtung Süden). Der Protektor war der Erzherzog und Kronprinz Rudolf, der einzige Sohn von Kaiser Franz Joseph und Kaiserin Elisabeth. Die Stelle für den Schießstand wird auch gewiss nicht zufällig gewählt worden sein. Hier wäre noch archivalischen Quellen nachzugehen. Die oben genannte Bezeichnung Salpeterhütte könnte ja auch in einem inneren Zusammenhang mit dem Betreiben des Schießstandes gestanden haben.
4. Fazit
Letze ist ein Wort, das mit hoher Wahrscheinlichkeit aus dem Romanischen in den Kleinwalser Dialekt übernommen wurde. Es hat, neben einer Reihe anderer Bedeutungen, über die das Grimm’sche Wörterbuch Auskunft gibt, vor allem jene der „Landwehr” bzw. der Straßensperre. Kein Ort im Breitachtal eignete sich besser dafür als die Letze. Urkundenhinweise aus dem 15. Jhd., weitere Flurnamen und der stille Druck der Geschichte legen nahe, dass diese Deutung zutreffen könnte. Auf weitere Urkundenauskünfte und auf mündliche Berichte bleibt zu hoffen, mit deren Hilfe sich manche der Vermutungen, die hier angestellt worden sind, noch etwas eingrenzen ließen.
Anmerkungen:
- Für wichtige und nützliche Hinweise danke ich Herrn Alfred Koch herzlich.
- Grimm J., Grimm, W., Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1885, Bd. 12, Sp. 801 (Nachdruck bei Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1999).
- „Das schöne Allgäu”, 10. Jan. 1950, Seite 16. (Separatabdruck in: Allgäuer Geschichtsfreund Nr. 51, Seite 5).
- Merkt, O., Letzen im Allgäu, in: Merkt, O., Burgen, Schanzen, Letzen und Galgen im Allgä und Das Kleine Allgäuer Burgenbuch. Kempten 1951, S. 223-257 (Wiederabdruck 1985, Nr. 18, S. 241, bei Verlag für Heimatpflege im Heimatland Allgäu e. V.).
- Merkt, O., op. cit., S. 226.
- Allerdings ist zu beachten, dass „Litze” im mhd. auch die Bedeutung von Schatten hatte.
- Merkt, O., op. cit., S. 226.
- Fink, J., H. v. Klenze, Der Mittelberg. Mittelberg 1891, S. 8. „Lezin” und ”Leze” wird im 15. Jhd. urkundlich erwähnt. In der Urschweiz ebenfalls ”Letzin”, Mz. ”Letzinen”.
- Grimm, op. cit.
- Dort sind 49 solcher Flurnamen dokumentiert worden.
- Merkt, O., 1950, op. cit.
- Merkt, O., op. cit., S. 229.
- Die vermutlich erst später aufkommenden Schanzen bestanden, im Gegensatz zu den Letzen aus planmäßig angelegten Gräben, deren Aushub zu einem Wall aufgeschüttet wurde. Sie erfüllten denselben Zweck wie die Letzen, konnten aber immer wieder instand gesetzt und benutzt werden. In der Schweiz gab es sogar gemauerte Letzen (Letzimur). Eine Letze ist demnach eine temporäre Straßensperre in Form eines Verhaus aus Ästen, Baumstämmen, Strauchwerk oder Felsen.
- Merkt, O., op. cit., S. 229.
- „Spruch des Gerichts Mittelberg über die Rodeinteilung” aus dem Jahr 1690. Pergamenturkunde, im Druck wiedergegeben als Beilage XV in Fink, v. Klenze, op. cit., S. 503-504.
- Vogt, W., Flurnamensammlungen, in: Vorarlberger Landesmuseumsverein, Freunde der Landeskunde in Bregenz (Hrsg.), Vorarlberger Flurnamenbuch, Flurnamensammlungen I. Teil, Band 9, Tannberg-Kleinwalsertal. Bregenz 1980.
- Mitteilung von Karl Keßler.
- Vgl. auch Merkt, op. cit.
- Fink, v. Klenze, op. cit., S. 281/82.
Der vollständige Artikel ist in Heft 86 der „Walserheimat“ zu finden.